Als Sechsjährige nach Taiwan

Ein Austauschjahr kann schwer und mit hohen Anforderungen an den Austauschschüler verknüpft sein. Wie man diese auch als sechsjährige meistern kann, davon berichtet Yen-Yin.

1999 gehörte dieser Beitrag zu den Preisträgern der Eckenroth-Stiftung.

Mit knapp 6 Jahren entschlossen sich meine Eltern, mich 1 Jahr nach Taiwan in die dortige Schule zu schicken. Dort sollte ich die chinesische Sprache, meine Muttersprache, schreiben lernen. Von unseren vielen Verwandten dort wählten meine Eltern meine Tante aus, die auf dem Land wohnte. Ich lehnte ihren Vorschlag nicht ab und fühlte mich sogar besonders heldenhaft. Welches deutsche Kleinkind fliegt schon alleine über einen Ozean nach Taiwan?

Taipei, Hauptstadt von Taiwan, meine erste Station. Zwei kleine Figuren zwischen Großstadtlärm und Alltagshektik. In den dicken Strumpfhosen stand ich nun unsicher neben meinem Cousin, der ein Jahr älter ist als ich. Mein Cousin (mittlerweile 17) wohnt im Moment bei uns in Deutschland.

Wenige Wochen später war es nun so weit! Nach zwölf Stunden Flug setzte ich meinen Fuß auf taiwanischen Boden. Ich wusste nicht, was für eine Kultur mich erwartete. Zunächst bemerkte ich nur das schwüle Klima, das in diesem Land herrscht, den Verkehr in Taipei, der Hauptstadt von Taiwan, aber auch die Herzlichkeit der Menschen.

"Was möchtest du essen?" fragte meine Tante mich eines Abends. "Das was ihr esst", meinte ich. Meine Mutter lehrte mich noch vor der Abreise, wie ich mich bei meinen Verwandten verhalten sollte. "Immer brav und unaufdringlich sein, auch wenn mir etwas nicht passt, nicht gleich schreien", lautete ungefähr das Motto. "Wir essen Nudeln. Doch wir werden sie scharf würzen. Traust du dir zu, Scharfes zu essen?" fragte sie. Da war nun die Gelegenheit gekommen, wo ich mich wirklich höflich zeigen könnte, dachte ich. "Ja, ein bisschen. Und wenn sie zu scharf sind, dann muss ich sie trotzdem mutig hinunterschlucken", lautete meine Antwort. Meine Tante lachte. Ich sah ratlos in ihr lachendes Gesicht. Was hatte ich denn nun falsch gemacht? Ich sollte doch so tun, als schmeckten sie gut, obwohl sie gar nicht gut schmeckten, oder?....

Meine Tante und mein Onkel waren für ein ganzes Jahr lang meine Ersatzeltern und verwöhnten mich richtig. Noch heute kann ich in ihre Arme als Kind flüchten. In vielen Sommerferien bin ich wieder "nach Hause" gekehrt. Geblieben sind nicht nur bedeutsame Erinnerungen sondern auch feste Wurzeln zu dem Land, der Kulter und meiner gesamten Verwandtschaft.

Nach einer Woche wurde ich eingeschult. Während die taiwanischen Schüler sich schon in der Kindergartenzeit auf die Schule vorbereitet hatten und auch schon in diesem Alter Englisch lernten, wusste ich noch nicht mal, was es bedeutete, zur Schule zu gehen. Ich kannte Schulen nur aus Bilderbüchern. Nie hatte ich etwas über die Strenge und die Arbeit in der Schule gehört. Um so enttäuschter wurde ich, als ich die Grundschule, die ich besuchen sollte, am ersten Schultag sah. Wie schäbig waren die Einrichtungen! Die Lehrer sahen streng aus, so dass die Schüler ernst und bitter blickten. Ich erschrak aber erst, als ich eine Dose vollgefüllt mit Rohrstöcken auf dem Lehrerpult stehen sah. Die Lehrerin kam zur Tür hinein. "Guten Morgen, Kinder!" begrüßte sie uns. Daraufhin antworteten alle in Uniformen gekleideten Schüler und Schülerinnen im Chor: "Guten Morgen, Frau Lehrerin!" Warum nannten die Schüler sie nicht bei dem Nachnamen? Erst später erfuhr ich, dass das nicht Sitte war, Lehrer mit dem Nachnamen anzureden. Man redete sie mit Lehrer an, und um sie auseinanderzuhalten, sagte man höchstens z. B. Lehrer Lin, Lehrerin Tau.

Schon gleich am ersten Tag bekamen wir Hausaufgaben auf. Für mich war es ein fremdes Wort. "Hausaufgaben? Was ist das denn?" fragte ich meine Banknachbarin. Sie erklärte mir noch nicht mal, was das bedeutete, sondern forderte mich auf, sie mir aufzuschreiben. Da ich keine Ahnung hatte, was das Wort bedeutete, machte ich nichts dergleichen.

Am nächsten Tag wurden alle Hefte eingesammelt. Ein grimmiges Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht der Lehrerin, als sie mein blankes Heft sah: "Was lernt ihr denn in Deutschland?" Die Schülerinnen und Schüler sahen mich verständnislos an. Ich wurde zum 8. Weltwunder. Wohin ich auch hinging, meine Mitschüler bohrten ihre Blicke in mich. "Sie ist eine Deutsche!" tuschelten sie und redeten über mich, als wäre ich ein Außerirdischer. Dabei hatte ich doch ein asiatisches Aussehen, allerdings aber einen deutschen Pass. Auf einmal kam mir eine Idee: Ich tat so, als hätte ich Bauchschmerzen, meldete es der Lehrerin und sie rief meine Tante an, die mich dann abholte. Das wiederholte ich jeden Tag, bis meine Tante und mein Onkel bemerkten, dass es nur Schauspielerei war, denn zu Hause waren die Bauschmerzen einfach vorbei und ich spielte mit meinen Spielsachen.

Der Ernst des Lebens: Risse in den Wänden, strenge Lehrerin, Frontalsitzordnung. Doch auf das Mittagsessen in der Schule freuten sich immer alle, auch wenn wir uns die Zähne danach putzen (grüne Zahnbürste und Becher stehen an den Ecken der Tische) und die Klasse sauber fegen mussten. Zur Pflicht gehörte auch die (Winter)schuluniform zu tragen. Ich mochte die beige Farbe nie und zog mir deswegen immer die rote Jacke drüber.

"Nummer 32!" ruft die Lehrerin auf. Damit soll ich gemeint sein. Doch ich habe keinen blassen Schimmer, dass jeder Schüler eine Nummer trägt, die den Namen ersetzt. "Yen-Ying Wu!" schreit meine Lehrerin hysterisch. Ich gehe zu ihrem Pult. "Welche Nummer vertrittst du?" fragt sie durchdringend. "Ich weiß es nicht." Im Hintergrund lachen alle. Meine Lehrerin zieht den kurzen Rohrstock aus der Dose. Ohne vorzuwarnen, schlägt sie auf meine Hüfte. Ich zucke auf. Schon wieder habe ich etwas falsch gemacht. Ich kann aber noch nicht bis 20 zählen. Ich spüre den brennenden Schmerz. Sie wiederholt die Frage. Ich weiß keine Antwort. Sie schlägt noch einmal zu. Ich weiß es immer noch nicht. Was soll ich tun? Soll ich schreien? Warum hilft mir keiner? Tränen steigen in die Augen. "Dir muss man noch viel beibringen", sagt sie. "Hände ausstrecken! Handfläche nach oben!" Ich schiebe und strecke meine schweißnassen widerstrebenden Hände hervor und verfluche die Angstgespenster, die um mich herumsausen und zischen. Der Stock klatscht mit einem Schwung auf meine Handfläche. "Ich sacke ein", denke ich. Mittlerweile hat sich mein Magen in einen komischen Klumpen verwandelt, den ich beschimpfe und daran erinnere, dass ich ein dummes leeres Hirn habe. Beim nächsten Schlag ziehe ich die Hände weg, um so schlimmer. Die Oberfläche des Stockes knallt auf meine Fingerkuppen.....

Sommerschuluniform: Den blauen Rock und die Bluse gefielen mir gut. Die gelbe Mütze verabscheute ich. Jedoch musste sie bei den morgendlichen Andachtstunden getragen werden und diente als Sonnenschutz. Nur an Samstagen durfte man sich individuell bekleiden.

Ich öffnete mein Heft. Eine rote 0 stand dick und fett auf dem Papier. Meine Banknachbarin hatte 100 Punkte. Ich senkte meinen Kopf. Wie konnten diese Schüler das schaffen? Meine Cousinen, die schon wesentlich älter waren als ich, lernten jeden Abend nach ihrer Arbeit die chinesische Lautschrift mit mir. Ich spürte, wie viel Mühe sie sich gaben, mir das beizubringen. Sie erklärten und erklärten immer wieder und doch verstand ich nichts davon. Auch meine Tante machte nachmittags die Hausaufgaben mit mir. Jeden Tag schrieben wir in der Schule Arbeiten. Das Mündliche, wie es das hier in Deutschland gibt, existiert in der taiwanischen Schule nicht. Erst langsam verbesserte ich mich ein bisschen. Ich steigerte mich immer wieder, nahm von nun an Schläge von meiner Lehrerin in Kauf und gab nicht auf. Ich strengte mich richtig an. In der Schule hörte ich genauer zu, doch meistens verstand ich keine Erklärung der Lehrerin. Ich war froh, dass ich mich zu Hause an meine Cousinen wenden konnte. Sie schenkten mir Bleistifte bei einer Verbesserung und lobten mich, setzten ihre ganze Kraft und Fantasie ein, um mir die Matheaufgaben zu erklären, machten Versuche mit mir, um mir Physik näher zu erklären, und lasen mit mir chinesische Kinderbücher. Jeden Abend betete ich zu Gott, dass ich besser und erfolgreicher in der Klasse wurde.

Chiayi, Süden von Taiwan: Hier erlebte ich ein ereignisreiches Jahr bei meiner Tante. Rote und goldene Aufschriften an den Häuserwänden sollen böse Geister vertreiben. Meine beste Freundin (links) und ich (zu dem Zeitpunkt bereits mit kurzem Haarschnitt wegen der Hitze!) fanden unseren Spielplatz immer im Garten von Betelnusspalmen umringt.

Mit der Zeit lernte ich nacheinander die Pflichten und die Aufgaben eines Schülers in Taiwan. Jeden Morgen fand eine "dämliche" Andacht statt, in der man die taiwanische Nationalhymne singt und dabei die taiwanische Fahne nach oben steigen lässt. Jeder musste mitsingen. Ich kannte noch nicht mal die Bedeutung des Textes und fragte mich immer wieder, was das bedeutete, "sein Vaterland zu ehren". Der Direktor hielt immer eine Rede über die Pflichten eines Schülers, die wir schon im Schlaf aufsagen konnten. Wir hörten oft nicht zu. Die sengende Sonne ließ uns schwitzen. Außerdem sollten wir immer ordentlich in einer militärischen Haltung verharren, was nicht angenehm war.

Nach 7 Lektionen wurde immer eine Gesamtprüfung durchgeführt. Alle Fächer wurden an einem Tag schriftlich durchgeprüft. "Auswendiglernen bis es nicht mehr geht!", hieß es hier. Für mich war das keine leichte Aufgabe. Ich saß nur noch jeden Tag zu Hause und lernte. Sport und Freizeit gab es nicht. In der Schule war zwar Sportunterricht vorgeschrieben, doch die Lehrerin strich ihn immer mit der Begründung, wir seien zu unruhig und wir müssten den ganzen Lehrstoff noch durchnehmen.

Orangenernte: Auf dem riesengroßem Grundstück meines Onkels wuchsen nicht nur Palmen sondern auch Orangenbäume. Die ganze Zeit wartete ich auf die Reifung der Früchte. Im Februar war es endlich soweit. Die Orangen wurden geerntet und auch verkauft. Ich half ab und zu mit, das Obst in Kartons zu verpacken oder die Orangen nach der Größe zu sortieren.

Der Prüfungstag kam: Während der Prüfung schwitze und zittere ich. Dabei habe ich mich besonders gut vorbereitet. Es ist doch alles nicht so einfach, wie ich es mir vorgestellt habe. Ich strenge meine grauen Zellen an, ich versuche ruhig zu bleiben und so gut wie möglich die Aufgaben zu lösen. Nach der Arbeit heule ich wie verrückt. Ich habe alles ausgefüllt, doch ich habe Angst, die nackte Angst, dass alles falsch ist. Ich habe Angst vor den Schlägen und vor dem Auslachen und mache mir selber Vorwürfe. Das Ankündigen der Ergebnisse tötet mich fast vor Spannung. Die 5 Besten werden mit Urkunden geehrt und sie werden immer zuerst genannt. "Den 3. Platz der Klasse erhält..." Nein, ich bin nicht auf dem 5., 4., auch nicht auf dem 3. Platz. Meine Hoffnung sinkt. Ich habe wohl nicht genügend gelernt. Bestimmt ist unser Klassensprecher der Zweitbeste oder der Beste in der Klasse. "Und der Sieger der Klasse ist die Nummer 32, Yen-Ying Wu!" ruft meine Lehrerin. Mein Herz steht still. Bestimmt träume ich. Das ist nicht wahr und ich habe mich bestimmt verhört. Ich schüttel wild den Kopf und vergewissere mich, dass ich nicht träume. Ich gehe nach vorne. Ich stehe neben dem Lehrerpult. Erstaunen zeichnet sich auf den Gesichtern der Mitschüler. Ich möchte die Welt umarmen. Ich fühle den Erfolg, die Bewunderung und seit langem die Akzeptanz der Mitschüler. Sie klatschten. Ich bekam meine Urkunde. "Hurra", dachte ich, "ich, das deutsche Mädchen, das nicht wusste, was Hausaufgaben bedeutete, hatte es bis zur Klassenbesten geschafft." Nicht nur ich freute mich, auch meine ganze Verwandtschaft war stolz auf meine Leistung. Ab dann ging es nur noch aufwärts. Meine Leistung behielt ich, bis ich nach einem Jahr wieder nach Deutschland zurückkehrte.

Meinen sechsten Geburtstag feierte ich in Taiwan. Eigentlich legen Taiwanesen überhaupt keinen Wert auf Geburtstage. Nach ihrer Rechnung wird man erst an dem chinesischen Neujahrstag ein Jahr älter. Doch trotzdem arrangierte eine meiner Cousinen (schneidet gerade den Kuchen an) eine "europäische" Torte mit viel Sahne.

Wenn sich deutsche Schüler beklagen, dass die Lehrer streng und die Schule stressig sei, kann ich das nicht behaupten. Denn ich kenne ein strengeres Schulsystem. Ich widme diesen kleinen Ausschnitt aus meiner Kindheit meinen Cousinen, meiner Tante und meinem Onkel, denen ich nie genug danken kann. Ohne ihre Geduld und Liebe wäre das Jahr in Taiwan völlig sinnlos gewesen. Ich habe in dem Jahr meinen Horizont durch ihre Fürsorge erweitern können und die Kultur in Taiwan verstanden.