Sol ich mein Gastfamilie wechseln?

Seit nun gut drei Monaten bin ich hier in Amerika. Die Schule macht mir Spaß und ich habe inzwischen in jedem Kurs Freunde gefunden. Auch wenn es in der Schule so gut läuft habe ich doch große Schwierigkeiten: Schon seit meiner Ankunft fühle ich mich hier bei meiner Gastfamilie nicht richtig wohl. In den ersten Wochen dachte ich, ich bräuchte nur Zeit um mich in meinem neuen Umfeld zurecht zu finden, aber es wird einfach nicht besser.

Ich glaube, dass die Familie, bei der mein Gastbruder aus Bolivien und ich wohnen, finanziell und sozial nicht dazu in der Lage sind Gastschüler aufzunehmen. Es schmerzt mich das so hart sagen zu müssen, dennoch ist es wahr. Finanziell geht es ihnen nicht sonderlich gut weshalb an allen Ecken gesparrt wird. Natürlich ist mir bewusst das man in den meisten Fällen nicht mit europäischen Standards rechnen kann, aber die Familie scheint mir auch auf die amerikanische Norm bezogen, sehr, sehr arm zu sein. Beispielsweise wird das Haus im Winter kaum beheizt, sodass man schon im Oktober im dicksten Pullover und mit den wärsmten Socken kläglich versucht der Kälte zu trotzen. Mir schaudert’s wenn ich an die wirklich kalten Monate, wie Dezember oder Januar denke. Glasteller werden, wie Kugelschreiber, nicht benutzt, da sie ihnen zu teuer sind. Nicht das ich sie verlange, dennoch sind die ein Zeichen für die Armut der Familie, die wie ein Damokles Schwert bedrohlich über ihren Köpfen hängt.

Das Haus an sich wird von Unordnung dominiert. Nicht nur mein Zimmer einem der drei Kinder, teilen muss ist schlichtweg unbetretbar. Überflüssig zu sagen das es ausschließlich Zeug von meinem Zimmergenossen ist. Dabei habe ich noch das bessere Los gezogen: Mein Gastbruder muss sich ein Zimmer, mit seinen 16 Jahren, Jüngsten der Familie teilen. Dieser ist autistisch und deswegen eigentlich nicht gesellschaftsfähig. Die ersten zwei Wochen habe ich mir ein Zimmer mit ihm geteilt, ich weiß also worüber ich schreibe: Wenn man sich ein Zimmer mit ihm teilen muss, dann wird man nachts Opfer seiner argen Flatulenzen und muss ihm auch gelegentlich beim ornanieren zu hören. Das Zimmer stinkt ohne Unterlass, da er es ablehnt sich zu duschen oder die Zähne zu putzen. Das wäre ja nichts Schlimmes, wenn man nicht von einem Gastschüler erwarten würde sich das Zimmer mit ihm zu teilen.

Auch ansonsten ist das Haus sehr unordentlich: Die Küche versinkt unter dreckigen Geschirr und Krimkramms, während das Wohnzimmer volle Wäsche ist, dreckig wie sauber, und voller Kisten, die seit einer, vor Wochen angefangenen, Aufräumaktion, dort stehen. Die ursprüngliche Farbe der Dusche lässt sich unter dem schmierigen Kalk- und Dreckschicht nur noch erahnen.

Auf sozialer Ebene sind sie auch recht schwierig. Neben dem Autisten, der von seiner alles kontrollieren Mutter,ständig bevorzugt wird, lebe ich mit ihrem groben Mann und ihren Kindern hier: Dem barschen Sohn und der aufgedrehten Tochter, mit der ich mich noch verhältnismäßig am besten verstehe. Um ehrlich zu sein kann ich keinen von ihnen besonders leiden. Es tut mir so leid, aber ich mag keinen von ihnen und fühle mich hier unwohl.

Es fällt schwer gegen eine Familie aktiv zu werden, die eigentlich gar nichts dafür kann. Sie sind wie sie sind. Aber wie sie sind können sie keine Gastschüler aufnehmen. Mit meiner Meinung stehe ich übrigens nicht alleine: Meine Freunde in der Schule haben mir erzählt, dass sich schon die vorherigen Gastschüler unwohl gefühlt haben. Zwei haben auch die Familie gewechselt. Auch mein Gastbruder fühlt sich hier völlig fehl am Platz und ist schon dabei seinen Wechsel zu organisieren.

Ich würde gerne meine Familie wechseln, dabei ist mir natürlich klar, dass das nicht so einfach geht. Aber in dieser Familie fühle ich mich nicht wohl. Eigentlich bin ich nur noch hier, weil irgendein Funken fehlt der die Sache hochgehen lässt, irgendwas nach dem ich sagen kann: ,Das war´s!" Bislang würde ich mit jedem anderen Austauschschüler, den ich in der Schule oder durch Melisas Arbeit kennengelernt habe, tauschen. Und das ohne zu zögern, geschweige denn zu überlegen. Stattdessen verbringe ich meine Zeit hier, wo ich mich unwohl fühle und bei einer Familie die ich schlichtweg nicht mag. Um ehrlich zu sein erwische ich mich selbst dabei wie ich die Tage nach Deutschland runterzähle.

Ich erlaube mir ein solch hartes, aber deswegen nicht falsches Urteil, da ich nun seit gut drei Monaten hier leben und ich glaube, dass ich meine Situation hier keinesfalls übertrieben oder verfälscht habe. Viel eher gibt es hier noch viele andere Sachen, die mich an der Familie stört, die aber jetzt den Rahmen sprengen würden. Von versteckten Sirupflaschen bis zu der verrückten Religion gibt es noch viele Sachen die mich stören.

Als ich vor ein paar Tagen mal alles niedergeschrieben habe was mich stört, um meine Optionen durchzugehen und zu überlegen was als nächstes. Es kamen ganze 6 Seiten zusammen die ich auf Deutsch schrieb und die ich in meinen Schulordner legte. Diese hat meine Gastmutter gestern „gefunden“ und dann einfach mal kopmplett in den Google Überstzer eingehämmert, weil sie ihren Namen gelesen hat. Eigentlich würde mich an meinen örtlichen Betreuer wenden, aber diese ist mit meiner Familie verwandt, also keine Option.

Was sagt ihr was soll ich tun? Ich würde gerne wechseln, bin aber konfliktscheu und befürchte die Familie sehr zu verletzen, weil sie nicht verstehen würden, wieso ich wechseln möchte.

Vielen Dank im Voraus.

Hallo,
alles was du beschreibst, klingt in der Summe auf jeden Fall nach einem Wechsel. Ich kann verstehen, dass du zögerst, aber für die Verhältnisse dort kannst auch du nichts! Du klingst ja, als ob du offen bist und hast dich sicher darauf eingestellt, dass vieles anders als Zuhause ist. Solche Zustände sprengen aber meiner Meinung nach den Rahmen dessen, was „normal“ und tolerierbar ist.
Ich denke, die Situation ist vermutlich auch nicht maßgeblich zu ändern, wenn du das Gespräch mit der Familie suchst. Hast du mal einen Lehrer angesprochen? Du musst dir auf jeden Fall Unterstützung suchen. Wahrscheinlich zögerst du, weil du auch sehr in der Situation steckst. Stell dir mal vor, all das würde deinem besten Freund passieren. Was würdest du ihm raten???
Sonst wende dich bitte auf jeden Fall an die Orga! Was sagen deine Eltern dazu?

Viele Grüße und entscheide dich bald, denn es geht um DEIN Jahr!

Also soweit du das hier beschrieben hast, würde ich nicht mehr zögern zu gehen. Natürlich ist in einem anderen Land (oder sogar Kontinent) vieles anders, aber das ist wirklich nicht zu tragen, meine Schwester war auch in Amerika, in 2 Gastfamilien und ich sie hat mir jeden Raum gezeigt, per Video und glaub mir, dass was du beschreibst ist nicht ‚normal‘ Außerdem fühlst du dich ja allgemein nicht so wohl hast du gesagt. Und wenn dein Betreuer mit ihnen Verwandt ist, dann versuche mit einem Lehrer zu sprechen oder am besten sofort mit deiner Orga. Ruf da an, es gibt sicher einen Weg. Dein Jahr soll ja schön sein.