Ein Jahr USA und ein paar Jahre danach

Raphael Silberzahn hat über sein Austauschjahr in den USA ein Buch geschrieben. Nun, während seines Auslandsstudiums holen ihn seine Erinnerungen wieder ein: Ein Schüleraustausch ist eben fürs ganze Leben.

Neulich passierte es wieder. Wir hatten einen Professor aus den USA zu Gast und waren beim Mittagessen. In solchen Situationen ist mein Austauschjahr, das nun mehr als zehn Jahre zurück liegt, wieder so präsent wie damals. Ich merkte, wie mit jedem Satz, den wir austauschten, sich Bilder von meinem damaligem Leben ins Bewusstsein drängten und mir das Gefühl gaben unseren Gast zu verstehen. Nein, ich spreche nicht von Vokabeln, von Grammatik oder vom amerikanischen Akzent sondern vom kulturellen Verstehen. Dazu muss man wissen, dass unser Gast ein lustiger Mensch war: Ein 70-jähriger Professor in Rente, der sich gemächlich von seinem Platz am Mittagstisch erhob. Im vollbesetzten Restaurant, stehend und leicht kauernd blickte er dann schelmig in die Runde. Skepsis und Verwunderung stand den anderen Essensgästen ins Gesicht geschrieben, obwohl er angekündigt hatte was nun folgen würde: sein berühmter „Piraten der Karibik Witz“, den er jährlich als Gastredner auf einem Kreuzfahrtschiff zum Besten gibt und mit den Reden für sich und seine Frau einen kostenlosen Urlaub erhält. Das Lächeln der anderen wirkte leicht gequält, nicht wissend ob man den komischen Auftritt oder den Witz an sich nun auch komisch finden durfte. Mein Schmunzeln hatte einen anderen Grund. Für ein paar Augenblicke fühlte ich mich wieder verbunden mit den USA, wurde wieder daran erinnert wie unterschiedlich Kulturen sein können und wie unterschiedlich sich Leute verhalten und verhalten dürfen. Als ich damals meinen Fuß in die Vereinigten Staaten setzte um für ein Jahr an einer High School die amerikanische Lebenswelt hautnah zu erleben, ahnte ich nicht wie sehr mich dieses Jahr prägen würde und wie sehr mein weiterer Lebensweg von diesem Jahr vorgezeichnet wurde. Ich hatte anschließend oft versucht noch einmal ähnliche Erfahrungen zu machen. Im Rahmen von Studienaufenthalten ging ich nach Mexiko, Russland, in die Niederlande und nach England. Ich arbeitete in Indien und ein wenig in Brasilien. Immer auf der Suche noch einmal einzutauchen in die Tiefen einer Gesellschaft. Noch einmal nicht recht zu spüren wohin ich gehöre, eins zu werden mit der Sprache, die einem im Wachen und in den Träumen vor Augen führt, in einer anderen Welt angekommen zu sein. All dies war damals möglich. Ich war jung, kaum 16 Jahre alt, darauf angewiesen in einer Familie zu leben, konnte nicht frei reisen wie in späteren Jahren, und dennoch waren es genau diese vermeintlichen Einschränkungen, die Jugend und die Naivität die mir ungeahnte Möglichkeiten gaben eine Kultur von innen zu erleben, ihre Verheißungen und Widersprüche.

Abschied von der Schulklasse

Ich erinnere mich an meinen ersten Jugendgottesdienst, zu dem mich mein Gastbruder mitnahm. Die Kirche dort hatte sich lange von Orgel oder Querflöten verabschiedet und sie gegen E-Gitarren und Verstärker eingetauscht aus denen nun satter Rock die junge Gemeinde begeisterte. Der Glauben gab ihnen Halt und zog sie für drei Tage pro Woche plus Sonntagsgebet in eine der unzähligen Kirchen im Ort. In der Schule fragte man mich nicht ob, sondern Bloß zu welcher Kirche ich ging. Verwundert hörte ich Pastor Dave zu, der die Gläubigen ermahnte, von Partys fern zu bleiben. Die Eltern schienen froh, dass Teil ihrer Erziehungsarbeit von Pastor Daves Auslegung der Bibel unterstützt wurde. Ich jedoch wunderte mich und hakte nach. In einem Einzelgespräch versuchte ich von ihm zu erfahren wo denn der Schaden wär sich mit Freunden zu treffen und gemeinsam Musik zu hören. Nun ja, die Musik und das Zusammenkommen sei in der Tat nicht das Problem. Problematisch sei, dass Alkohol getrunken wird und Mädchen oftmals schwanger von diesen Partys nach Hause kamen. Da sei es doch besser, erst gar nicht solche Orte aufzusuchen - argumentierte Dave vorsorglich. Als ich dann das erste Mal zu einer solchen Party eingeladen wurde war ich total stolz. Ja, ehrlich gesagt wusste ich nicht, dass es sich um eine solche Party handeln würde denn mein Schulenglisch hatte mich darauf nicht vorbereitet. Ich wusste lediglich, dass es eine Geburtstagsparty sein würde und fand es nett, dass meine Klassenkameradin auch mit 17 Jahren noch Wert auf eine ‚Cake‘ Party legte. Was ich damals nicht wusste war, dass ich mich verhört hatte und mit ‚Keg‘ nicht etwa ‚Cake‘ gemeint war sondern die amerikanische Bezeichnung für (Bier)Fass. Das half mir auch viel besser zu verstehen, warum die anderen lachten als ich anbot auch einen ‚Keg‘ mitzubringen. Noch heute kommen mir diese und andere Szenen meines Auslandsjahres manchmal in den Sinn und es freut mich über mich selbst lachen zu können. Ich überlege mir manchmal was ich heute anders machen würde und kann mich besser in damalige Weggefährten reinversetzen. Sei es meine erste Gastfamilie, deren mein Drang nach Selbständigkeit und Kommunikation in der Familie gegen den Strich ging, oder Marsha, meine zweite Gastmutter, die sich ein Jahr nach meinem Aufenthalt von ihrem Mann trennte. Was mich vor meinem Austausch anzog waren Bilderbuchgeschichten von traumhaften Austauschjahren gebannt in Hochglanzprospekten mit Fotos, deren Strahlkraft den Preis des Jahres überdecken sollten. Ich hatte mir gewünscht ein traumhaftes Jahr in Kalifornien zu verbringen, unweit des Pazifiks, mit einer tollen Gastfamilie und tollen Schulfreunden. Geworden ist es ein Jahr im texanischen Amarillo, umgeben von Steppe, mit einem holprigen Start in der ersten Gastfamilie und zahlreichen Abenteuern. Somit erlebte ich weniger, jedoch zugleich so viel mehr als ich mir je erhofft und geträumt hätte. Noch heute spüre ich die Gänsehaut wenn ich an dieses Jahr in seiner Gänze denke, spüre ich Wehmut, dass die Augenblicke nie wieder so sein werden wie ich sie damals erlebte, zugleich Zufriedenheit und Dankbarkeit, dass ich das Gelebte erleben durfte.

English Literature Class

Dies zu verstehen fiel vielen Außenstehenden damals schwer. Als ich nach knapp einem Jahr nach langer Zeit wieder nach Deutschland zurückkehrte, schien ich wie ausgewechselt. Nach ein paar Wochen war ich mir selbst nicht mehr sicher, ob ich nun wirklich ein Jahr von zuhause weg war und dies alles erlebt hatte, was mein Kopf einzuordnen suchte. Schmerzlich wurde mir bewusst: Ich war hier der einzige Zeuge von dem was ich weit entfernt von meinen Freunden und von meiner Familie erlebt hatte. Erzählungen halfen (oder auch nicht), dafür mehr Verständnis zu bekommen. Oftmals erreichten sie genau das Gegenteil. Die andere Kultur wird schnell als falsch und unverständlich abgestempelt, gefolgt von Verwunderung, wie man es so lange dort ausgehalten konnte. So blieben meine Erfahrungen, meine Abenteuer bei mir. Aus Angst sie zu vergessen, um die Furcht zu überkommen, dass eines Tages nur das Stakkato der von Fotos gebannten Momente über mein Jahr in den USA berichten würde, begann ich zu schreiben. Ich schrieb über mein Jahr in den USA, wie es nur ich tun konnte. Es gibt keine Schablone, keine Blaupause wie ein solches Jahr abläuft. Es gibt keine Gewissheit was man in diesem Jahr erleben wird oder wie es einen verändern wird. Dennoch hoffe ich, dass das Buch das ich hinterlassen habe auch Dir als Leser etwas geben kann: Das Miterleben meiner Abenteuer, das Lachen darüber was es bedeutet eine neue Kultur zu erfahren, und ein wenig Lust und Neugier sich selbst darauf einzulassen, zu reisen, neue Orte und dadurch nicht zuletzt sich selbst kennen zu lernen.

"Ein Jahr USA und zurück" liegt nun bei mir auf dem Schreibtisch. Hinten, rechts, hinter einem Stapel wissenschaftlicher Zeitschriften. Ab und zu schaue ich auf die Fotos, lese die ersten Abschnitte und fühle dabei wie ich damals fühlte als ich zu meiner Reise aufbrach. Wenn ich in diesem August zu einer Konferenz in die USA reisen werde, so ist mein Blick geschult. Junge, aufmerksame Augen voller Erwartung, nervös und zugleich ruhig, so werden auch dieses Jahr wieder viele junge Menschen aufbrechen um in den USA ihre Version eines einmaligen Jahres zu erleben. Ich freue mich mit ihnen, gönne ihnen diese Erfahrungen und bin glücklich - denn auch ich reise mit ihnen.

Raphael Silberzahn ist Autor des Buches "Ein Jahr USA und zurück". Er lebt mit seiner Familie in Großbritannien, wo er derzeit an der Universität Cambridge an seiner Doktorarbeit schreibt.